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agileworld 2022: Agilität zwischen Achtsamkeit, Flow und Geschwindigkeit “on steroids”

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Aufnahme eines Publikums von oben

Die vergangenen beiden Corona-Jahre hatten es in sich. Für Konferenz- und Eventorganisatoren ebenso, wie für die Beratungsbranche. Nach der kollektiven Wiederauferstehung hat spätestens das erste Halbjahr 2022 gezeigt, wie es derzeit so läuft. Im Balanceakt zwischen Great Resignation, Fachkräftemangel, New Work und unternehmensweiten Geschäfts- und Transformationszielen, pendelt sich das agile Miteinander 2022 in einer hybriden Form der Interaktion im großen Spiel der digital-agilen Transformation ein. 

Logo der agileworld - Quelle:agileworld.de

Die agileworld schaffte es, diese Themenvielfalt trefflich zu verbinden und um eine Reflexionsfläche für die Großherausforderung unserer Zeit - dem Klimawandel - zu erweitern. Mit ihrem Terminslot 04. und 05. Juli 2022, also noch kurz vor der großen Sommerpause, war ein passendes Zeitfenster gefunden und mit dem Claim “Inspect. Adapt. Sustain.” die nötige Aufmerksamkeit der Agil-Community generiert. Noch dazu feierte sie 2022 ihr zehnjähriges Bestehen, konfiguriert als reine Online-Veranstaltung. Abgesehen von einem begleitenden Networking- und Partyabend am Ende des ersten Konferenztages, ging es also wie mittlerweile gewohnt mit Headset und Kamerabild ins Eventgeschehen. Möchte man die agileworld in diesem Zusammenhang beim Namen nehmen und so auch bewerten, stand dem internationalen und ortsunabhängigen Zugang technisch nichts entgegen. Die Online-Konferenz-Plattform “Hopin” besitzt das nötige internationale Renommee und war in der Gesamtheit auch gut nutzbar. Internationale agile Welt, agileworld, here we go! Anhand der Referentenliste wurde jedoch auch schnell klar, wo der Fokus der Konferenz liegt: ein Community-Event der Agilisten im deutschsprachigen Raum. Internationales Flair brachte eine denkwürdige Tesla-Keynote. Ansonsten gab es vielfältige Einblicke in den Stand der agilen Arbeitswelt in Deutschland. Bei Bosch, bei Siemens, bei der Metafinanz. Ergänzt wurde dies durch verschiedene Austauschformate sowie den üblichen Berater-Ausblicken auf das, was zukünftig kommen mag. Aber der Reihe nach.

Keynotes ohne “Stay Humble”-Faktor

Eingerahmt wurden die beiden Tage durch die Keynotes von Jutta Eckstein (“Agile for Future: Mit Agilität zu mehr Nachhaltigkeit”, einige Folien gibt es auf Slideshare) am Montagmorgen und von Joe Justice (“Tesla´s Secret Process for Rapid Innovation”, YouTube Aufzeichnung verfügbar) am Dienstagnachmittag. Gemeinsam war beiden, dass Bescheidenheit nicht die Tugenden der Keynote-Speaker sind. Während Jutta Eckstein in ihrem Vortrag die “Eckstein Law” auspackte, reichte Joe Justice zumindest das “Justice board” als Reminiszenz an sein eigenes Wirken bei Tesla. Ob es derlei Selbstbeweihräucherung frei nach dem Motto “stay humble” eigentlich braucht, sollte individuell entschieden werden. Wer zumindest nach zwei Tagen das Eckstein´sche BOSSA nova Konzept noch nicht kennt, hat im begleitenden Chat und in der ein oder anderen Diskussion einfach nicht richtig aufgepasst oder diesbezüglich irgendwann auf Durchgang geschaltet.

Abseits derlei Petitessen zeigten die beiden Keynotes eindrucksvoll die Bandbreite aktueller Entwicklungen und Spielfelder am Begriff der Agilität: Nachhaltigkeit und Achtsamkeit auf der einen Seite; Innovations- und Entscheidungsgeschwindigkeit auf der Anderen. Vielleicht liegt es an den kulturellen Vorprägungen der Speaker oder generell an der deutschen Zurückhaltung gegenüber allzu überdrehter Konzepte, beide Speaker hätten inhaltlich nicht weiter auseinander liegen können. ­­­

Die Kernaussage der einleitenden Keynote: “Ändern wir die Art und Weise wie wir Software implementieren nicht, werden wir zur Erhöhung des CO2-Fußabdrucks beitragen. Es ist also Zeit zu prüfen, wie Agilität dazu beitragen kann, den Energieverbrauch zu senken und für mehr – ökologische, soziale & wirtschaftliche – Nachhaltigkeit zu sorgen.”. Guter Punkt, wenn der zunehmende Energieverbrauch der IT zur Erhöhung des CO2-Fußabdrucks beitragen wird und wir uns dieses Effekts bewusst werden, sollten wir etwas dagegen tun. Laut Jutta Eckstein ist es an der Zeit, diese Aspekte dringend in die agilen Arbeitsweisen zu übernehmen und Nachhaltigkeit als Leitplanke für alle

Handlungen und Ergebnisse in der agilen Entwicklung zu integrieren, bspw. indem Nachhaltigskeitsaspekte in die Definition-of-Done (DoD) übernommen werden. Immer unter der Voraussetzung, dass es die Organisation bzw. der Kunde wünscht bzw. finanzieren muss. Unternehmensweite Policies können helfen, humanitäre Aspekte zu managen, sei es lokal im Team oder auch in globalen Wertschöpfungsketten. Und schließlich bleibt die Frage: Wann ist die Arbeit erledigt, der Tasks wirklich "done"? Aus Nachhaltigkeitsperspektive  wären hier Einschränkungen oder zumindest Rahmenbedingungen für das WIE der Umsetzung denkbar. Auch die Aspekte Selbstorganisation, Transparenz, Kundenorientierung und kontinuierliches Lernen können im Nachhaltigkeitsgedanken zum Tragen kommen. Sich als Teil eines globalen Netzwerks verstehen, dessen Handeln einen Einfluss auf die Umwelt hat und dass zusammen mit anderen Unternehmen und Organisationen einen aktiven Beitrag leisten kann. Transparenz zum eigenen Handeln im Innen wie Außen herstellen. Die Natur bzw. das Gemeinwohl - in ökonomischer, ökologischer, gesellschaftlicher wie sozialer Hinsicht - als Stakeholder verstehen, für die Mehrwert geschaffen werden soll. Und auch das Lernen von und mit der Gesellschaft, um gemeinsam nachhaltig die Welt zu verbessern. Alles relevante Punkte, die vermutlich im agilen Arbeitsalltag in vielen Teams noch wesentlich zu kurz kommen. Will man “Inspect. Adapt. Sustain” tatsächlich ernst nehmen, wird sich auch das erfahrenste agile Team in Sachen Nachhaltigkeit und Achtsamkeit weiterentwickeln (müssen) und mit ihm eine neue nachhaltigkeitsgetriebene Transformationsbewegung durch die Organisation ziehen.


Ecksteins Law - Keynote Jutta Eckstein, agileworld 2022 - Quelle: lisacrispin.com/2021/11/30/agile-testing-days-2021-1-of-asking-new-questions/

Während Jutta Eckstein zum Einstieg also über Nachhaltigkeitsaspekte der agilen Projektarbeit reflektierte, wirkte die Abschluss-Keynote von Joe Justice, als hätte man der agilen Bewegung eine ordentliche Dosis Steroide verpasst. So “fast” wie Tesla seiner Schilderung nach ist, so sehr fragte man sich, ob bei aller Geschwindigkeit auch noch ein Funken Reflektieren und Menschzentriertheit möglich ist. Vom fehlenden Nachhaltigkeitsdenken, über das Argument früher oder später den Planeten in einer SpaceX-Rakete wechseln zu wollen/müssen/können, abgesehen. Man könnte auch sagen: Agilität im Kleide einer turbokapitalistischen Weltveränderungsreligion, in der unter 12 Stunden Arbeitstage - natürlich nur gültig, wenn “in the factory” abgeleistet - gar nichts geht. Entsprechend wenig Zeit bleibt Tesla demzufolge auch für Onboarding oder generelle Prozessbeschreibung. Insofern ist das Tesla-“anti-handbook handbook” nur folgerichtig und entspricht in Kürze und Inhalt auch dem wahrgenommenen Prinzip von “Agile on Steroids”. Ob es sich dabei um einen Marketingscherz handelt oder Tesla damit tatsächlich eine mehr als 100.000 Menschen umfassende Organisation führt, bleibt das Geheimnis von Joe Justice und Elon Musk. Die Corporate Rebels haben eine klare Meinung: “go ahead and ditch 90% of the document”. Nicht ganz falsch, wie wir finden.    

Auszug aus dem “anti-handbook handbook” - Keynote Joe Justice, agileworld 2022

Apropos “Agile” und Projektarbeit. Wer meint mit Scrum am oberen Ende der Iterations- und Inkrementbemühungen, also in Sachen Anpassungs- und Lerngeschwindigkeit, angekommen zu sein, dem sei gesagt, dass 30-tägige Entwicklungszyklen selbst in gemischten Soft- und Hardware-Umfeldern, wie sie bei Tesla existieren, einfach viel zu langsam sind. Scrum als Miniwasserfall. Ungeeignet für “the most advanced agile company of our time”. Hier geht es nicht um Tage und Iterationen mit Sprintlängen 1-4 Wochen. Es geht um Stunden und Minuten. Hardware-Updates - “in production” - in der Fabrik mehrmals täglich. Ausgeführt über generische Interfaces und Schnittstellen, die es erlauben, Teile schnell zu updaten. Continuous Delivery in Automotive, wenn man so will. Dass das möglich ist und Sinn macht, möchte nicht bezweifelt werden. Ob dazu ein “justice board” gebraucht wird, an dem sich alle (sic!) Fabrikmitarbeiter um 5 Uhr am Morgen und 5 Uhr am Abend treffen, um dann in kleinen, selbstorganisierten Teams auszuschwärmen und die relevanten Tasks auszuführen, daran lässt sich zweifeln. Auch daran, ob im Dreieck aus Qualität, Zeit und Kosten immer der Zeiger vollständig in Richtung der Zeit zu zeigen hat. Aber gut, jeder wie er mag, “fast, as fast can be”.


Scrum vs. Agile at Tesla - Keynote Joe Justice, agileworld 2022

Generell stellt sich lt. Joe Justice immer wieder die Frage nach Gelegenheiten, verschiedene Aktivitäten möglichst parallel auszuführen. Geschwindigkeit also dadurch zu maximieren, dass verbundene oder auch ungekoppelte Aktivitäten zeitgleich nebeneinander stattfinden. Das Parallelität auch Orchestrierung benötigt und zu viel Parallelität gern auch im Chaos endet, scheint im Tesla-Universum kein Problem zu sein. Hier ist man einfach zu weit vorneweg, als das solche Probleme - zumindest öffentlich - noch existieren würden. Im Gegenteil: kleine, mittlere, große Features werden parallel-synchron bearbeitet und fließen nach Fertigstellung im Sinne eines “production ramp-up” stückzahlenmäßig sukzessive aber zeitlich sofort in die Produktion und Auslieferung an den Kunden ein. 


Wasserfall vs. Agile bei Tesla - Keynote Joe Justice, agileworld 2022

Entsprechend dieses Geschwindigkeits-Mantras bleibt die Tesla-Kultur eine reine Performance-Kultur, in der “stupid mistakes” im Ernstfall auch zur direkten Kündigung führen können und in der die Erwartungshaltung Bottlenecks zu fixen mit dem Bild einhergeht, am Ort des Geschehens zu bleiben und am Besten direkt in der Fabrik zu schlafen. Genauso, wie es Elon Musk vor längerer Zeit medienwirksam vorgemacht hat und nach Aussage von Joe Justice nun auch regelmäßig tut. So lässt sich New Work und Home Office also auch interpretieren! Der große Vorteil: mit dem CEO direkt zu sprechen scheint, zumindest der “flat culture” auf dem Papier nach zu urteilen, möglich und gewünscht zu sein. Und generell sind Manager eher Ausnahmeerscheinungen bzw. in eine allseits verfügbare, “AI-powered” (was sonst!) App transzendiert, die es ermöglicht, Entscheidungen direkt und ohne Zeitverlust - also maximal “fast” - am Ort des Geschehens zu treffen und auch das persönliche Lernen und Entwickeln selbstgesteuert und ohne Overhead durchzuführen. Das dazu eine AI auch mal im Werk schaut, an welcher Stelle fünf Mitarbeitende gerade rumstehen und deren Kosten-Nutzen-Ratio in Echtzeit berechnet, damit muss man als deutschsprachiger Menschenfreund erst einmal klarkommen.


Tesla Flat Culture - Keynote Joe Justice, agileworld 2022

Kein Vortrag, und sei er noch so abgedreht, bleibt ohne Wirkung. Und so lässt sich auch aus dem Tesla´ischen Geschwindigkeitsoptimierungsdenken a lá Joe Justice einiges Lernen: 

  • Erstens, dass die deutsche Agilitätsdebatte manchmal den Business-Fokus verliert und bei allem “personal well-being” auch das System funktionieren muss, sprich Innovationsführerschaft einen erheblichen Preis hat;
  • zweitens, dass “Agile in Hardware” hier und da in der deutschen Industrie die Entdeckungsreise des Jahrhunderts zu sein scheint und noch immer nicht ganz klar ist, ob das nun wirklich geht, bei Tesla jedoch tief im Unternehmenskern verankert scheint, siehe bspw. die iterative Entwicklung von Fahrzeugen oder die Arbeit bei SpaceX sowie u.a. auch die exzessive Nutzung von Lean Coffees und Open Spaces; und
  • drittens, man vielleicht nicht alles, was hier als Keynote erzählt wurde als 1:1-Kopie der Wirklichkeit für bare Münze nehmen sollte. 

Tesla Lean Coffee - Keynote Joe Justice, agileworld 2022

Highlights aus dem Konferenzprogramm

Neben den ausführlich beschriebenen Inhalten der Keynotes konnte ein bunt gemischtes Tagungsprogramm überzeugen, dass zu nahezu allen Spielarten der Agilität einen Einblick parat hatte. Unter dem Motto “Inspect. Adapt. Sustain.” bekam zudem das Thema Nachhaltigkeit, wie weiter oben schon erwähnt, einen besonderen Stellenwert. 

Agiles Arbeiten bei Bosch

Roswitha Beleiu und Dr. Lothar Kaiser von der Robert Bosch GmbH zeigten im Vortrag “Gestaltung der Organisationsstruktur in einer hybriden Arbeitswelt bei Bosch”, wie das aktuelle agile Setup bei einem großen deutschen Industrieunternehmen in einem notwendigerweise agil skalierten Kontext implementiert ist. Besonders bedeutsam: das Spannungsfeld zwischen agilen Teams und deren Einbettung in die Unternehmenshierarchie, Herausforderungen zu Führung in skalierten agilen Organisationen anhand des GRAL-Frameworks sowie das vorgestellte Shared-Leadership-Modell, das u.a. die Führungskultur bei Bosch definieren helfen sollen. Generell blieb die Erkenntnis, dass agile Transformation und die Entwicklung von Leadership-Modellen in einer digitalisierten Unternehmenswirklichkeit gerade bei den großen deutschen Industrieunternehmen auf der Agenda stehen und dort, ausgestattet mit den nötigen Ressourcen, gerade intensiv vorangebracht werden.

GRAL-Framework bei Bosch - Vortrag Beleiu/Kaiser, agileworld 2022

Agile in Hardware

Christian Bock

Aus eigenen Beratungserfahrungen wissen wir um die besonderen Aspekte des agilen Arbeitens in gemischten Soft- und Hardware-Umfeldern. In der deutschen Industrie eine wohlbekannte Herausforderung. Christian Bock, seines Zeichens Requirements Engineer, Consultant & Trainer bei der SOPHIST GmbH, gab Einblick in seine diesbzgl. Erfahrungswelt. Besonders interessant: die Verbindungslinie zwischen den Ansätzen des Systems Engineering und agilen Skalierungsmethoden, sowohl aus der Perspektive der Abstraktion von einzelnen Entscheidungs- und Betrachtungsebenen aber auch der jeweils stattfindenden Trennung zwischen Problem- und Lösungsfeld. Des Weiteren bestätigte er, was auch unsere Erfahrung zeigt. Agiles Arbeiten ist auch im Hardware-Kontext gut möglich und wird mittlerweile an verschiedenen Stellen praktiziert. Die Entwicklungsarbeit kann auch hier von kurzen Feedbackschleifen, schnellem Prototyping, frühem Stakeholder-Involvement und einer Reduktion der Gesamtkomplexität profitieren. 

Systems engineering und agile Skalierung - Vortrag Bock agileworld 2022

Ein weithin unterschätztes Thema bleibt die Systemdokumentation mit der besonderen Herausforderung, dass bei der Zulassung von Hardware-Produkten ein besonderer Fokus auf diesem Aspekt liegt. Folgerichtig zeigte Bock mit seinem Ansatz der Continuous Documentation einen auf dem Scrum-Flow basierenden Prozess, um auch das Thema Dokumentation sauber abzubilden. Wo am Ende allerdings die agile Arbeit im Kontext der Hardware-Entwicklung und (massenhaften) Produktion - Stichworte: Nullserie und Serienproduktion - schließlich endet, darauf wusste auch Christian Bock nur in guter alter Beratermanier richtigerweise zu antworten: “Es kommt darauf an”!

Continuous Documentation - Vortrag Bock agileworld 2022

Die adaptive Organisation

Christoph Mathis

Schon 2014 begeisterte Frederic Laloux in seinem Buch “Reinventing Organizations” mit den beiden Fallbeispielen Buurtzorg und MorningStar und zeigte hier Unternehmen, die Praktiken der Selbstorganisation bzw. des agilen Arbeitens erfolgreich implementiert hatten. Seine unter dem Begriff der “teal practices” subsumierten Aspekte folgten den Werten und Prinzipien der agilen Arbeit im Sinne einer lernenden und sich an verändernde Umfeldbedingungen flexibel anpassende - in diesem Sinne also adaptiven - Organisation. Folgerichtig griff Christoph Mathis in seinem Vortrag diese Beispiele als initiale Ausgangsbasis auf und schlug den Bogen von der Hierarchie über eine Flow-Organisation bis zum Netzwerkbegriff. Verbunden waren diese Gedanken mit der Frage, wie ein zukünftiges Organisationsdesign aussehen kann, dass über die bekannten Strukturüberlegungen in den Ausgestaltungen von SAFe®, Scrum@Scale, Holacracy, Soziokratie oder auch einer dualen Organisation, bestehend aus einem hierarchisch strukturierten Kerngeschäft und einem netzwerkartigen Innovationsableger, hinausgeht. Also, inwieweit es Anzeichen und Fallbeispiele dafür gibt, dass Organisationen bereits über diesen Grad der Innovation des eigenen Organisationssystems hinausgehen und neue Wege und Konzepte erproben.

Hierachie & Netzwerk - Vortrag Mathis, agileworld 2022

Im Folgenden zeigte Mathis mit Haier ein internationales Großunternehmen, welches sich seiner Analyse nach von einer klassischen Hierarchie zum agilen Netzwerk und von dort zu einer Art Plattform und Ökosystem entwickelt hat, in dem 80.000 Mitarbeitende über “smart contracts” und einem “open bid”-System miteinander interagieren und Unternehmensgrenzen zunehmend verschwimmen. Die damit einhergehenden Fragen nach Vor- und Nachteilen sowie Grenzen des Konzepts wurden im begleitenden Chat und in der anschließenden Diskussion aufgegriffen. Der im Vortrag vorgestellte Gedankengang war nachvollziehbar, die agilen Organisationsmodelle allseits bekannt. Ob der Schluss auf den Begriff “adaptive Organisation” und von dort auf eine Unternehmenszukunft im Design eines Plattform-Ökosystems valide ist, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall regte der Vortrag zum Reflektieren über aktuelle Grundannahmen und bekannte Konzepte der agilen Organisation an.

Unternehmensbeispiel Haier - Vortrag Mathis, agileworld 2022

Kontinuierliches Lernen bei Siemens

Karl-Heinz Busch, SDS Manager bei der Siemens AG zeigte dass derzeitige Setup des Siemens Development Systems und der unternehmenseigenen Lernplattform in Verbindung mit dem Konzept der agilen Lerncoaches im Kontext der Entwicklung einer großen Organisation. Das Ziel: der Sprung von Prozess-Orientierung über agile Transition hin zu einer lernenden Organisation im Sinne eines Systems, dass schneller lernt als die Marktbegleiter. Das agile und digitale  Transformation wissensintensive Prozesse sind und organisationales sowie individuelles Lernen erfordert, ist bekannt. Spannend am Vortrag war deshalb vor allem der Einblick ins konkrete Doing eines großen deutschen Industrieunternehmens. Dabei kommt sogenannten Lerncoaches eine besondere Rolle zu. Im Kontext der Siemens-Implementierung handelt es sich um Lernbegleiter, die zusammen mit der lernwilligen Person ein individuelles Curriculum und Tempo bestimmen sowie über den Prozess des Lernsprints wachen. Lernsprints sind wiederum Lerniterationen, die an den Scrum-Flow angelehnt sind. Die Erkenntnis: der Scrum-Flow - die Eierlegende Wollmilchsau der Agilität - funktioniert als auch in diesem Kontext. Warum auch nicht! 

Lernsprints bei Siemens - Vortrag Busch, agileworld 2022

Crossfunktionale Führung der IT

Oliver Fischer, Alexander Gold

Oliver Fischer, Agile Coach und Organisationsentwickler, und Alexander Gold, Head of Software Development, gaben Einblicke in die Welt der Lebensversicherung von 1871 a. G. München (LV 1871). Der traditionsreiche Versicherungsverein befindet sich seit einiger Zeit auf dem Weg zu einer neuen, zeitgemäßeren Form von Leadership und Management und hat mitten im Corona-Jahr 2021 den Wechsel in eine geteilte Führung gewagt. Dem Sprung ins kalte Wasser ging jedoch einige Zeit der Vorbereitung und Erfahrungssammlung voraus. Bereits 2002 hat man beim Münchner Lebensversicherer die agile Zeitreise mit Extreme Programming in der IT begonnen, in 2008 Scrum eingeführt und ein knappes Jahrzehnt später die Skalierung mit dem agilen Framework SAFe® begonnen. Den kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Blick, hat man neben zahlreichen Vorteilen, auch für sich erkannt, dass die Trennung von Fachbereichen und IT sowie die quartalsweise Synchronisation in der SAFe® Schlachtplan-Konferenz (PI Planning) nicht ausreicht, um mit kurzfristigen Herausforderungen Schritt zu halten. Deswegen hat man gemeinsam mit dem Top-Management die Entscheidung getroffen, die Führung der Teams der Anwendungsentwicklung crossfunktional in ein Führungs- und Unterstützungsteam (F&U-Team) mit jeweils unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Rollen aufzuteilen, u.a. im Hinblick auf Personalführung, Methodik, Anwendungsentwicklung und fachliche sowie technische Architektur. Ohne die Unterstützung des Top-Managements sowie dem Willen und dem Beitrag der Mitarbeitenden wäre das nicht möglich gewesen, so das einhellige Resümee, denn der Weg des Ausprobierens ist selten ausschließlich sonnig. So ist der Aufwand für eine derart geteilte Führung höher als vorher, die Kommunikation aller Beteiligter muss gut abgestimmt sein, damit sie zielführend ist, und auch Entscheidungen brauchen teilweise länger. Dass das für alle Beteiligten dennoch gut funktioniert, die Rahmenbedingungen für die tägliche Arbeit insgesamt verbessert werden konnten, das hat eine Mitarbeiterbefragung ergeben. Mit diesem positiven Feedback zum geteilten Führungsmodell in der Hinterhand ist man sich sicher, weiter auf dem richtigen Weg zu sein, so die beiden Mitglieder im sog. Führungs- und Unterstützungsteam. 


F&U-Team bei LV 1871 - Vortrag Fischer & Gold, agileworld 2022

Einer der wichtigsten Take Aways ist: Investieren lohnt sich - in Teambuilding genauso wie in methodische Qualifizierung mithilfe unabhängiger agiler Coaches. In der näheren Zukunft möchte man beim Münchner Lebensversicherer die agile Zeitreise fortsetzen und das Modell der F&U-Teams oder Führungs-Tandems auch in anderen Bereichen ausprobieren. 

OKR Anti-Pattern

Dennis Wagner

Immer mehr Unternehmen springen auf den OKR-Zug in der Hoffnung auf, mit klar definierten und allseits abgestimmten Zielen gemeinsam auf die erklärte Strategie hinzuarbeiten. Dennis Wagner, End-2-End Coach, dwcg Consulting, hat einen kritischen Blick auf die Dinge gewagt. Objectives & Key Results sind kein standardisiertes, eindeutig definiertes Rahmenwerk wie Scrum und insofern in der inhaltlichen Nutzung und Ausgestaltung mitunter höchst individuell. Es kursieren unterschiedliche Interpretationen der Methode, ob es beispielsweise die sog. Midterm Goals (MOALS) braucht, wieviel Tagesgeschäft in die OKRs gehört, ab wieviel Prozent ein Key Result als erfolgreich gilt und wie es sich mit besonders ambitionierten Zielen (Moonshots) verhält. Mangels guter, einheitlicher Definition verwundert es nicht, dass die Einführung von Objectives & Key Results nicht immer von Erfolg gekrönt ist und es viele Missverständnisse darüber gibt, was die Methode zu leisten vermag und was eben nicht. Dennis Wagner warnt davor, sich von OKRs ein Planungswerkzeug, ein Messinstrument oder sogar ein neues Bonusmodell zu versprechen. OKRs sind ein nicht-formalisiertes Werkzeug für Alignment. Und auch hier gilt, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Es braucht Zeit und Energie vom Management wie von den Mitarbeitenden, um in mehreren Zyklen über einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (inspect & adapt) zu lernen und besser zu werden. Ganz im Sinne von Christina Wodtke und dem gleichnamigen Buch empfiehlt Dennis Wagner “Radical Focus” als guten Startpunkt auf dem Weg zum Erfolg. Viele Unternehmen wenden nach eigener Aussage die Methode bereits an. Hinter die Kulisse schauen und hinterfragen, was es konkret (messbar) gebracht hat, lohnt sich.

Taskboard Forensik

Reiner Kühn

Das Taskboard ist ein weithin bekanntes und gern genutztes agiles Werkzeug zur Visualisierung von Arbeit und zur Herstellung von Transparenz für alle am Prozess beteiligten Teammitglieder. Die Schlüsselkomponente der Kanban-Methode und des Scrum-Frameworks visualisiert die aktuellen Aufgaben, die WIP-Limits (Work in Progress), den Workflow und den Stand der Zielerreichung. Richtig genutzt kann es Agile- und DevOps-Teams helfen, ihre tägliche Arbeit zu strukturieren und kontinuierlich zu verbessern. Reiner Kühn, Agile Catalyst bei 1&1 Mail & Media Development & Technology GmbH, hatte wertvolle Tipps parat, wie man den täglichen Blick auf’s Board vertiefen kann, um ungenutztes Potential zu heben. In der Zahlenwelt der Reports und Diagramme (Kanban Control Chart, Scrum Burndown Chart, CFD - Cumulative Flow Diagramm) erschließt sich erst auf den zweiten Blick eine aufschlussreiche Welt der Muster und Zusammenhänge, die es erlauben, gezielt besser zu werden. Eher offensichtliche Fragen, die man sich selbst stellen kann, sind: Wandern unsere Tickets immer nur von links nach rechts? Gibt es untypische Tickets wie Dauerläufer und wiederkehrende Tickets? Haben alle In-Progress-Tickets einen zugewiesenen Bearbeiter? Der Blick auf den CFD-Bericht gibt darüber hinaus detaillierteren Aufschluss, wieviele Tickets pro Zeiteinheit durchschnittlich geschafft werden, wie lange eine Anforderung in der Umsetzung benötigt, wie viele Vorgänge parallel bearbeitet werden können (WIP) und wieviele Backlog-Einträge ich mit meinen Ressourcen durchschnittlich bewerkstelligen kann. Fazit: Beim Überprüfen und kontinuierlichen Verbessern lohnt sich regelmäßig - etwa aller sechs bis acht Wochen - ein unabhängiger Blick auf das Taskboard sowie die Berichte und Diagramme kombiniert mit einem offenen Austausch, um die Informationen entsprechend zu verknüpfen, daraus gemeinsam Verbesserungsideen zu generieren und die Effekte wiederum messbar zu machen.  

Fazit

Für uns blieben im Rückblick zwei spannende Konferenztage, die man nicht missen mag. Die ein oder andere terminliche Ablenkung des beruflichen Alltags kann man allerdings vermutlich nur mit einer dezidierten Vor-Ort-Veranstaltung umgehen. Vielleicht ergibt sich für 2023 ja die Möglichkeit wieder persönlich und vor Ort in den Austausch zu kommen. Schön auch, dass im Nachgang ein Großteil der Inhalte als Video-Aufzeichnung, die Slides zum Download und dazu noch ein Miro-Board mit weiterführenden Informationen bereitgestellt wurden. Besser geht es nicht! Die Ausrede, keine Zeit für die beiden Konferenztage gefunden zu haben, bleibt damit also unwirksam. Alle Inhalte sind verfügbar und - wie es sich für die agile Community gehört - sind die meisten Referenten als Ansprechpartner auch gut erreichbar. Insoweit also 5 von 5 Sterne und: bis 2023!

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