Das Internet und die verändernde Kraft der Digitalisierung im Kontext wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse ist Zeit Ihres Entstehens ein wesentliches Kernthema. In keinem E-Business-Standardwerk fehlt es an Aussagen zur Innovationskraft digitaler Technologien, keine Konferenz kommt ohne den obligatorischen Digital Innovation Track aus. Im Rahmen meiner kleinen Blogreihe habe ich auch in Teil 1 schon einmal allgemein dazu etwas geschrieben.
Was mir hierzu um die Jahreswende aufgefallen ist, betrifft den Begriff der "disruptiv innovation", der ursprünglich von Clayton Christensen in seinem Buch "The Inovators Dilemma" (1997) als wissenschaftliches Phänomen beschrieben wurde. Ich habe aktuell das Gefühl, dass relativ ungenau damit umgegangen wird. Man kann sehen, dass nahezu jede Lösung die durch die Digitalisierung befördert wird und wirtschaftliche Tragweite besitzt schnell unter dem Mantel der disruptiven Innovation zusammengefasst wird. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungskraft, welche die Digitalisierung zweifelsohne mit sich bringt, soll unmissverständlich ausgedrückt werden. Das was neu und digital ist, bekommt das Siegel "disruptiv".
Klar, "disruption" klingt gut, erzeugt das Gefühl des sich sofort bewegen Müssens und ist noch dazu international en vogue. Damit einher geht allerdings auch die Frage, ob wir als Praktiker nicht nur ein neues Schlagwort gefunden haben, um unseren Kunden die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit digitalen Lösungen und aktuellem Managementgedankengut verkaufen zu können? Oder erklären wir auch dass, was wir praktisch sehen und als "disruptive" labeln mit dem Phänomen der "disruptive innovation" so wie es wissenschaftlich korrekt wäre?
Ich glaube oftmals nicht.
Aus der Praxis
Ein Beispiel: Christian Hoffmeister beschreibt in seinem aktuellen Buch "Digitale Geschäftsmodelle richtig einschätzen" (2013) die Veränderungswirkung der Digitalisierung und versucht einen Rahmen zu schaffen, wie digitale Geschäftsmodelle realistisch einzuschätzen sind. Das Buch ist aus meiner Sicht gut gelungen, räumt mit einigen Mythen auf und schafft einen guten Überblick zum Thema. Im einführenden ersten Kapitel werden wesentliche Begriffe erläutert. U.a. das Internet als technologische Innovation. Und hier passiert es: Hoffmeister beschreibt auf Seite 9 in einem Merksatz das Internet als eine "disruptive Basistechnologie" und verweißt auf eine Tabelle in o.g. Buch von Clayton Christensen. Diese Tabelle stammt von Seite 18 (PDF-Versionen des Buches sind im Netz an vielen Stellen zu finden) und zeigt eine Gegenüberstellung etablierter und disruptiver Technologien. So wird bspw. die kabelgebundene Telefonie der mobilen Telefonie gegenüber gestellt oder gedruckte Grußkarten als etablierter Rahmen gegenüber frei herunterladbaren elektronischen Grußkarten im Web gezeigt. Da eine Vielzahl der dort benannten Beispiele webbasiert sind, zieht Hoffmeister den Schluss: das Internet ist eine disruptive Technologie. Soweit so gut und grundsätzlich intuitiv verständlich. Aber leider eben nicht wirklich richtig...
Gehen wir einen Schritt zurück und beschäftigen wir uns mit den Begriffen "Innovation" und "Basistechnologie". Einen einfach strukturierten Überblick dazu findet man in jedem BWL-Kompendium, so u. a. auch in bei Gerpott in Vahlens "Kompendium der Betriebswirtschaftslehre" (Band 2, 2005)."Innovation" wird hier wie folgt definiert:
"Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind Innovationen von Unternehmen mit der Absicht der Verbesserung des eigenen wirtschaftlichen Erfolgs am Markt oder intern eingeführte qualitative Neuerungen."
Es wird weiterhin nach breiter und enger Definition des Begriffs sowie Innovationsgraden, -objekten und -bezugseinheiten unterschieden. Wichtig ist, die Durchsetzung der Erfindung (Invention) am Markt. Erst dann spricht man von einer Innovation (Eselsbrücke: invention + exploitation = innovation).
Und was ist dann eine"Basisinnovationen"?
"Radikale Innovationen, die völlig neue Märkte definieren (z.B. Personal-Computer-Markt) und/oder die Wettbewerbssituation in einer Industrie grundlegend verändern, werden auch als Basisinnovationen bezeichnet."
Nun kann man Technologie und Innovation nicht unbedingt gleich setzen. Eine Technologie kann verschiedene Phasen durchlaufen (Embryonale Technologie, Schrittmacher-, Schlüssel-, Basistechnologie) und dient in der Regel als Ausgangspunkt für Innovationen. Und was hat es dann mit der "Basistechnologie" auf sich? Hier hilft uns ebenfalls die Literatur. Im Netz ist die Definition schnell gefunden:
"Technologie über deren Know-how alle Anbieter am Markt mehr oder minder gleichermassen verfügen. Meist geht es um Detailverbesserungen, die dem derzeitigen Stand des technischen Wissens entsprechen und im Wesentlichen der Vervollkommnung bestehender Angebote dienen."
Damit können wir erstmal festhalten: Das Internet ist Stand heute als eine Basistechnologie zu sehen. Also doch alles richtig? Oder doch nicht? Wie steht es um die "disruption"?
Eine Versuch der Kurzzusammenfassung:
Clayton Christensen stellt in seinem o.g. Werk den beiden bekannten Innovationsgraden radikal und inkrementell noch eine weitere Struktur zur Seite. Denn seine empirischen Forschungen zeigten, dass das Innovationsproblem in (gut geführten) Unternehmen eben nich darin liegt, dass diese technologische Sprünge und damit verbundene (radikale) Innovationen im Markt nicht mitgehen können. Seine Zahlen belegten das Gegenteil: in etablierten Unternehmen einer Branche konnten diese Unternehmen sowohl einfache inkrementelle Veränderungen, als auch komplexe und ressourcenintensive Technologiesprünge radikaler Natur leisten. Dies aber nur dann, wenn sich diese Innovationen auf einen branchenbekannten und wohldefinierten Leistungsindex und damit der wesentlichen "Messgröße" innerhalb der Branche bezogen. Bspw.: die Kapazität von Festplatten in der Festplattenindustrie, Hubvolumen bei Baggern oder Reinheit von Insulin. Diese Leistungsindizes waren jeweils bekannt und wurden kundenseitig als wesentliches Entscheidungskriterium zum Kauf eines Produktes gesehen. Damit konnte klassische Marktforschung sowie Technologie- und Produktentwicklung stattfinden. Die etablierten Unternehmen konnten erhebliche Ressourcen an Mensch, Material und Finanzen frei machen und ihren Markt weiterhin beherrschen.
Abb. in Anlehnung an Christensen (1997): Technologieentwicklung nach der S-Kurven-Theorie im Bereich der "sustaining innovations": Inkrementelle Innovationen und radikale Innovationssprünge.
Allerdings zeigte sich auch, dass es Innovationen gab, denen die o.g. Unternehmen nicht folgen konnten. Oftmals waren diese nicht besonders technologisch herausfordernd, häufig sogar in etablierten Unternehmen bekannt und anwendbar. Das Dilemma, welches Christensen nun beschreibt besteht darin, dass etablierte und gut geführte Unternehmen das tun, wozu die allgemeine Managementtheorie rät: den Kundenbedürfnissen/-wünschen folgen. Solange sich dies auf den bekannten Leistungsindex bezog, waren Unternehmen erfolgreich. Sie konnten inkrementelle und radikale Innovationen erzeugen. Der Leistungsindex wurde aufrecht erhalten (engl. to sustain). Daher nennt Christensen diese Innovationen "sustaining innovations".
Kamen nun aber Startups aus anderen Wertenetzwerken, deren wesentliches Meßkriterium ein anderer Leistungsindex war (bspw. physische Größe und nicht Kapazität der Festplatte) und hatten ihre Produkte soweit entwickelt, dass diese auch den Leistungskriterien der Kunden standhielten, die von etablierten Unternehmen bedient worden, entstand ein neuer Mechanismus. Da sich die Produkte der Startups häufig duch einfachere Bedienung, geringerem Preis und schneller wachsender Leistungsfähigkeit auszeichneten, konnten diese mit hohem Tempo den Ursprungsmarkt etablierter Unternehmen zerreißen / durchschlagen (engl. to disrupt). Derartige Innovationen nennt Christensen "disruptiv innovations".
Abb. in Anlehnung an Christensen (1997): Technologieentwicklung nach der S-Kurven-Theorie im Bereich der "disruptive innovations": Technologie 2 erreicht Leistungsfähigkeit der Technologie 1 und dringt in einen etablierten Markt ein.
Wie man sieht: es kommt nicht zwingend auf die Technologie an, um eine disruptive Innovation zu erzeugen. Disruption ist relativ. Relativ zum Markt und zum Leistungsindex in diesem. Christensen nennt das Ganze übrigends nicht "Markt", sondern "value network" und liefert auch hierfür eine theoretische Erläuterung, auf der die Ursachen für die "Disruption" fußen.
Und schließlich...
Für mich ist damit klar: das Internet ist vieles. Es ist interessant, bringt innovative Applikationen und Prozesse hervor und natürlich auch entsprechende neuartige digitale Geschäftsmodelle. Für einige soll es sogar noch "Neuland" sein. Die Digitalisierung sorgt für Umbrüche und ist die Basis vieler Veränderungen. Die Technologie selbst ist pauschal jedoch kein Maßstab für "disruption". Disruptive Innovationen sind relativ zu den beteiligten "value networks" und dem Zeitpunkt des Beschäftigen mit diesen zu sehen. Sicher, webbasierte Lösungen sorgen oftmals für radikale Umbrüche. In manchen Branchen sind die technischen Möglichkeiten des Internets aber nicht einmal radikal neu - sondern inkrementeller Natur. Solange wir uns also in einem wohldefinierten Leistungsindex bewegen und eine Technologie einsetzen, um diesen Leistungsindex (bspw. Übertragungsgeschwindigkeit, Schnelligkeit einer Bestellung) zu pushen, sind wir im Bereich der "sustaining innovations". "disruptiv innovations" entstehen erst, wenn sich der Leistungsindex ändert, ein neues "value network" beteiligt ist und sich die Produkte und Leistungen in diesem neuen "value network"so entwickeln, dass sie in älteren und angestammten "value networks" (welche einen anderen Leistungsindex zur Grundlage haben) konkurrenzfähig werden.
Erst dann entsteht die Sprengkraft, deren Energie meist kein etabliertes Unternehmen standhalten kann. Und dann ist es für die Etablierten meist zu spät, auf diesen neuen Zug aufzuspringen. Siehe MyTaxi. Dazu aber demnächst...