Es ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der Bundesrepublik Deutschland: Millionen von Menschen in einem möglichst kurzen Zeitfenster gegen SARS-CoV-2 impfen. Neben allerlei Kritik an der derzeit verfügbaren Impfmenge, der Kapazitäten der Impfzentren und der Impfreihenfolge, gibt es die ganz praktische Ebene der Impfterminvergabe. Mit den Mitteln und Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten der digitalen Transformation solcher vormals manueller Terminvergabe-Prozesse könnte das Bild entstehen, dass diese Ebene das geringste Problem darstellt. Die Erwartung der Nutzer ist klar: eine einfach verständliche, leicht bedienbare und nachvollziehbare Website zur Buchung eines individuellen Impftermins. Da wir zunächst von hochbetagten Senioren inklusive deren assistierenden und oftmals ebenso bereits nahe des Rentenalter befindlichen Verwandten sprechen und zu einem späteren Zeitpunkt breite Bevölkerungsschichten angesprochen werden, muss ein solches digitales Terminbuchungs-Werkzeug den üblichen Kriterien an Zugänglichkeit und Benutzbarkeit in besonderem Maße entsprechen.
Allgemeine Rahmenbedingungen der Barrierefreiheit
Diese Kriterien an Websites fasst man in der Informationstechnik gern als Barrierefreiheit zusammen, die Realisierung einer passenden Website als barrierefreies Webdesign. Digitale Angebote sollten diesen Kriterien nicht nur entsprechen, sie sind seit dem 23. September 2020 für Behörden der Bundesverwaltung sowie für alle weiteren einbezogenen öffentlichen Stellen verpflichtend. Auf Landes- und Kommunalebene bestehen entsprechende Regelungen, die weitestgehend gleichlautend sind. Im Land Sachsen gilt beispielsweise das Barrierefreie-Websites-Gesetz.
Damit ein Webangebot als barrierefreies Webangebot gilt, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Diese sind definiert in der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV), welche in einer aktualisierten Version im Mai 2019 in Kraft trat. Einbezogen werden sowohl redaktionelle Inhalte einer Website als auch deren technische Umsetzung. Darüber hinaus muss eine Erklärung zur Barrierefreiheit auf der Website vorhanden sein. Zusätzlich ist ein Feedback-Mechanismus zur Einreichung von digitalen Barrieren auf der Website verpflichtend und ein Hinweis auf eine Schlichtungsstelle muss aufgeführt werden. Da auch das Thema Leichte Sprache integraler Bestandteil ist, sollten neben Informationen und Hinweisen zu Inhalten und Navigation der Website auch die wesentliche Bestandteile der Erklärung zur Barrierefreiheit in Leichter Sprache zur Verfügung stehen.
Realisierung im sächsischen Impftermin-Portal
Soweit so gut. Im Land Sachsen hat man relativ schnell reagiert. Das Webangebot sachsen.impfterminvergabe.de ist seit einigen Wochen online. Anfängliche Kritik hinsichtlich der Fähigkeit auch größere Lastspitzen zu ertragen ist abgeebbt. Wir haben uns die aktuelle Umsetzung des Impf-Buchungsportals auch aus Perspektive von Zugänglichkeit und Benutzbarkeit angesehen und den Status quo der Barrierefreiheit anhand eines BITV-Tests mit dem Ziel begutachtet, damit einen Beitrag zur weiteren Optimierung zu leisten.
Der BITV-Test ist ein anerkanntes und in Deutschland weit verbreitetes Verfahren für die umfassende und zuverlässige Prüfung der Barrierefreiheit von Websites und Webanwendungen. Einen Zugriff auf den gesamten von uns durchgeführten BITV-Test können wir aus rechtlichen und organisatorischen Gründen nur auf Anfrage gewähren. Unsere Analyse zeigt jedoch, dass die derzeitige Umsetzung des sächsischen Impfportals den Kriterien einer barrierefreien Website bei guter Ausgangsbasis noch nicht vollständig genügt. Vielmehr bestehen noch einige Hürden für gehandicapte Menschen in der Nutzung des Webangebots. Zentrale Aspekte lassen sich wie nachfolgend beschrieben extrahieren.
Bild: Startseite der Website sachsen.impfterminvergabe.de (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Bild: Startseite der prozessualen Anwendungsteile der Website sachsen.impfterminvergabe.de/civ.public/start.html (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Allgemein:
Generell ist festzustellen, dass das Webangebot in zwei separate Teile gegliedert ist: eine relativ einfach gestaltete und sehr textlastige Startseite sowie ein - durch Öffnen eines zusätzlichen Tabs getrennter - prozessualer Bereich, welcher nur mit aktiviertem Javascript nutzbar ist. Vermuteter Grund ist, dass die Startseite seitens eines anderen (landeseigenen) Betreibers realisiert wurde und der weitere Teil durch eine zentrale Applikation (“CIV-Portal”) bereitgestellt wird, die von mehreren Bundesländern genutzt wird.
Nun lassen die aktuellen BITV-/WCAG-Regeln inklusive der WAI-ARIA eine Nutzung von Javascript-gesteuerten Inhalten zu. Weshalb diese organisatorische Trennung überhaupt besteht ist jedoch aus Nutzergesichtspunkten nicht nachvollziehbar, technologisch bedingt lässt sie sich sicherlich erklären. Vermutlich gäbe es aber auch technisch gängige Wege ein in sich einheitliches Informations-, Registrierungs- und Anmeldesystem bereitzustellen, das ohne eine solche Trennung auskommt und auch ohne Javascript-Nutzung bedienbar wäre.
Aus diesen strukturellen Begebenheiten trennen wir die nachfolgende Einschätzung aber ebenfalls in den Bereich der Startseite und der prozesslastigen Formularseiten.
Bild: Startseite der prozessualen Anwendungsteile der Website ohne aktiviertes Javascript sachsen.impfterminvergabe.de/civ.public/start.html (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Startseite:
Im Bereich der Startseite fällt besonders die Fußzeile des Webangebots auf. Einerseits sind die Kontrastverhältnisse zwischen Textlinks und Hintergrund nicht ausreichend groß (die Links "Datenschutz" und "Impressum" besitzen ein Kontrastverhältnis von 1.73:1, Vorgabewert ist 4,5:1).
Weiterhin erschließt sich zudem nicht, weshalb die dahinter liegenden Informationen als PDF-Dokumente bereitgestellt werden. Hier zu beachten ist zwar, dass es sich um kein Ausschlusskriterium handelt. Eine “Best Practice” ist dies sicherlich aber ebenfalls nicht. Zudem sollten Links auf ein anderes Dokumentenformat visuell/textuell ausgezeichnet sein bzw. ein title-Attribut enthalten. Dies ist hier derzeit leider noch nicht gegeben.
Es sei zudem erwähnt, dass zumindest auf der Startseite kein Link zur Barrierefreiheitserklärung eingefügt wurde, was dringend nachzuholen wäre.
Bild: Fußzeile auf der Startseite der Website sachsen.impfterminvergabe.de mit Problemen im Kontrastverhältnis sowie verlinkten PDF-Dokumenten, fehlende Erklärung zur Barrierefreiheit (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Ein weiterer Aspekt ist die Auslieferung semantisch korrektem HTML-Quellcode. Dies ist für die Startseite derzeit noch nicht gegeben. Der HTML-Validator schlägt aus unterschiedlichen Gründen fehl. So werden bspw. veraltete <b>-Tags statt <em> und <strong> verwendet, oder zwei <br>-tags hintereinander geschaltet anstatt der Nutzung eines <p>-Tags. Im Bereich der Darstellung des “Schritt-für-Schritt-Ablaufs” ist die Überschriften-Hierarchie nicht stimmig. Auf eine <h3>-Überschrift folgen weitere <h3>-Überschriften innerhalb einer ungeordneten Liste. Das Ganze ist nicht sonderlich tragisch und für die Benutzung der Website nicht zwingend eine wesentliche Hürde. Ein Schönheitsfehler ist es aber allemal und sollte ausgebessert werden.
Im Sinne einer Tastaturbedienung mangelt es der Startseite an einer grafischen Auszeichnung von Elementen während des Fokussierens auf ein Element. Dies gilt besonders für die unzureichende Visualisierung des Fokus auf die Buttons "Weiter" und "Termin". Bei Tab-Nutzung mittels Tastatur ist bei diesen Elementen nicht ersichtlich, dass diese fokussiert sind.
Prozesslastige Unterseiten (Registrierung / Terminvergabe):
Im Gegensatz zur Startseite ist hier eine Barrierefreiheitserklärung aufrufbar. Leider enthält diese aber Referenzen auf die Hessische Verordnung über barrierefreie Informationstechnik (HVBIT), welche für das Land Sachsen nicht gültig ist. Dies wird vermutlich mit einer gemeinsamen Nutzung dieser Anwendungskomponente durch mehrere Bundesländer zusammenhängen. Aus sächsischer Perspektive sollte man aber auch hier in jedem Fall nachbessern. Als weiterer Aspekt ist in einigen Teilbereichen des Webangebots ein Blindtext eingefügt (“lorem ipsum”). Vermutlich wurde dieser vergessen zu entfernen oder mit sachdienlichen Hinweisen zu befüllen. Ein Fakt, den man schnell nachholen kann.
Bild: Ausschnitt mit Blindtext aus der Erklärung zur Barrierefreiheit im prozessualen Anwendungsteile der Website sachsen.impfterminvergabe.de/civ.public/start.html(zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Bild: Ausschnitt mit Verweis auf die HVBIT aus der Erklärung zur Barrierefreiheit im prozessualen Anwendungsteile der Website sachsen.impfterminvergabe.de/civ.public/start.html (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
In der Erklärung zur Barrierefreiheit werden weiterhin bereits vom Anbieter erkannte Einschränkungen als “zur Korrektur in der Entwicklung” bzw. als “unverhältnismäßige Belastung” dargestellt. Man kann hier einerseits nur darauf vertrauen, dass der Anbieter nachbessert bzw. eine tatsächliche unverhältnismäßige Belastung vorliegt. Aus rein technischer Sicht liegt diese unserer Meinung nach nicht vor.
Die Auslieferung eines semantisch korrektem HTML-Quellcodes wird auch in diesen Seitenbereichen nicht überall entsprochen. So erfolgt bspw. keine Gruppierung bei Eingabefeldern die zusammen gehören (Vorgangskennung, Passwort) und Input-Felder verweisen mit labeled-by auf ein leeres <span>-Element, das Label-Element ist jedoch schon für die Bezeichnung zuständig. Im Datenschutz-Popup im Punkt "Verarbeitete Daten" ist ein <ul>-Element zu sehen bzw. unvollständig. Kleinigkeiten, die nicht sein müssen.
Allgemeine Einschätzung, über die reine Betrachtung der Barrierefreiheit hinaus
Es ist grundsätzlich begrüßenswert, dass eine digitale Terminvergabe im Land Sachsen bereitsteht und dieser Zugangsweg überhaupt ermöglicht wird. In einigen Bundesländern, bspw. in Berlin und Brandenburg, ist dies nach unserem aktuellen Kenntnisstand (noch) nicht der Fall. Für die Zukunft sollte jedoch ebenfalls an einer weitergehenden Optimierung des UI-/UX-Designs des Angebots gearbeitet werden. Die Anwendung erfüllt derzeit das notwendige funktionale Minimum. Um im Laufe des Jahres breite Bevölkerungsschichten vom Impfangebot zu überzeugen und eine Registrierung und Terminvergabe so einfach wie möglich zu gestalten, sind Anpassungen an der Gestaltung, dem Umfang und der Präsentation der damit verbundenen Informationen und auch prozessuale Anpassungen zu empfehlen. Das Service-Portal der Kassenärztlichen Bundesvereinigung könnte hier ein passender Ausgangspunkt für eine weitergehende gestalterische und redaktionelle Optimierung sein. Aus prozessualer Sicht bieten sich viele digitale Dienstleistungen an, die ähnlich komplexe Abläufe implementiert haben. Zuallererst können hier führende E-Commerce-Anwendungen Beispiel sein. Weiterhin lohnt sich ein Blick in andere Länder. Gute Beispiele finden sich hier für die Zukunft beispielsweise beim “NYC COVID-19 Vaccine Finder” oder auch beim Buchungsservice des NHS in Großbritannien.
Bild: Beispiel außerhalb Deutschlands: der NYC COVID-19 Vaccine Finder unter vaccinefinder.nyc.gov/locations (zuletzt abgerufen am 25.02.2021)
Hinweis für mehrsprachige Informationen
Im Quellcode des Webangebots ist ein Dropdown-Element mit Sprachauswahl ersichtlich. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Funktion, die noch nicht fertig entwickelt ist und eventuell später freigeschalten wird. Generell ist die Auszeichnung aus Sicht der Barrierefreiheit in Ordnung (aria-hidden=true und display=none). Aus Nutzersicht sollte die Funktionalität jedoch bald verfügbar sein, damit auch fremdsprachige Impfberechtigte eine Möglichkeit zur Vergabe eines Impftermins haben. Ob die im Quellcode ersichtlichen und damit vermutlich geplanten Sprachversionen in deutscher und englischer Sprache ausreichend sind, ist zweifelhaft. Hier sollten weitere Sprachversionen, bspw. Russisch und Arabisch geplant werden.
Ein Angebot in Leichter Sprache ist bisher ebenfalls nicht vorhanden und sollte auch aus gesetzlicher Sicht zeitnah ergänzt werden. Welche Potentiale sich dadurch ergeben können, zeigt unsere Fallstudie zur Realisierung eines Angebots in Leichter Sprache für die Stadt Leipzig.
Zusammenfassung
Barrierefreiheit und Nutzerzentrierung ist somit auch für das sächsische Impfportal nachvollziehbar und notwendigerweise zu realisieren. Es sprechen nicht nur gesetzliche Regelungen dafür, sondern der praktische Grund einer besseren Befriedigung zentraler Nutzerbedürfnisse. Die allgemeinen Voraussetzungen sind ausreichend gut und die erkannten Barrieren in einem überschaubaren Umfang zu beheben. Insgesamt muss man dem Angebot zu Gute halten, dass es als solches überhaupt existiert und ein digitaler Zugangsweg überhaupt gegeben ist. Im Verhältnis zu anderen Bundesländern ein Vorteil. Wir würden uns jedoch freuen, wenn die Verantwortlichen des Impfportals hier im Sinne Ihrer Zielgruppen in Sachen Barrierefreiheit nachbessern und schließlich im Laufe der nächsten Monate auch eine weitergehende Anpassung im Sinne der Nutzerzentrierung in Betracht ziehen.
Als Dienstleister für CMS-Entwicklung und Barrierefreies Webdesign haben wir zuletzt in unserem Blogbeitrag "Praxistipps zur Realisierung von Barrierefreiheit bei Webangeboten im öffentlichen Sektor" auf die wesentlichen prozessualen und inhaltlichen Punkte der Barrierefreiheit hingewiesen. Zudem steht ein Whitepaper “Digitalisierung für Alle” zur Verfügung, das umfassend zum Thema der digitalen Barrierefreiheit informiert.
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Nachtrag (01.03.2021, 10:45): Im Zuge der Analyse nach den Kriterien der BITV haben wir uns lediglich auf die öffentlich zugänglichen Seiten konzentriert. Dabei wurden diejenigen Bereiche, die sich hinter einem Login verbergen, wie beispielsweise die Anzeige vorgeschlagener Impftermine, nicht mit berücksichtigt.