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Enttäuschung beim Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?

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Eine Frau im karrierten Hemd, die ein Tablet in den Händen hält.

Verschiedene Gesetze und Verordnungen tragen zur Barrierefreiheit von Produkten, Dienstleistungen und der baulichen Umwelt in Deutschland bei. Unter Anderem das seit 2002 bestehende Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) des Bundes und der Länder oder die Barrierefreie Informationstechnik Verordnung (BITV). Diese Regelungen beziehen sich jedoch nur auf  den öffentlichen Raum, also dort, wo Menschen mit Trägern der öffentlichen Gewalt in Kontakt kommen, wie Behörden oder andere Verwaltungseinrichtungen. Dort wird geregelt, wie Barrierefreiheit im Zusammenhang mit Bundesgebäuden, Webseiten oder Apps umgesetzt werden muss. Explizite Vorschriften für privatwirtschaftliche Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen gab es bisher nicht. Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wurde nun im Mai 2021 genau so ein Gesetz verabschiedet. Was für viele Personen, die von einem solchen Gesetz durch eine verbesserte Befriedigung Ihrer Bedürfnisse profitieren, eigentlich Freude hervorrufen sollte, stellt sich bei genauerer Betrachtung jedoch als eine Enttäuschung heraus, die schon viel Kritik geerntet hat. 

Wieso wurde dieses Gesetz verabschiedet?

Ausschlaggebend für die Verabschiedung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes ist die Verpflichtung zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/882, dem sogenannten “European Accessibility Act” (kurz EAA), welche am 28. Juni 2019 in Kraft trat. Ziel dieser Richtlinie ist die Vereinheitlichung der Barrierefreiheitsanforderungen von Produkten und Dienstleistungen in den Mitgliedsstaaten der EU, wodurch der europäische Wettbewerb vereinfacht und die Hürden beim Handel mit barrierefreien Produkten und Dienstleistungen verringert werden sollen. Somit wird gleichzeitig eine Erhöhung der Verfügbarkeit barrierefreier Produkte und Dienstleistungen und die Verbesserung der Barrierefreiheit einschlägiger Informationen erwartet. EU-Richtlinien gelten, im Gegensatz zu EU-Verordnungen, nicht unmittelbar und müssen zu ihrer Verbindlichkeit im innerstaatlichen Recht noch durch das jeweilige Mitgliedsland in ein Gesetz, einen Staatsvertrag oder eine Verordnung umgewandelt werden. Mit der Verabschiedung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes wurde jene Richtlinie also in nationales Recht gegossen. 

Welche Produkte und Dienstleistungen sind betroffen?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist im Hinblick auf die erfassten Produkte und Dienstleistungen nahezu deckungsgleich mit denen der EU-Richtlinie. Einzig die Regelungen zum Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten (z.B. Video-on-Demand-Dienste) sind nicht enthalten, da diese in Deutschland gesondert im Medienstaatsvertrag aufgeführt werden. Gleiches gilt für die barrierefreie Nutzung der 112-Notrufnummer, welche im Rahmen der Umsetzung des neuen Telekommunikationsmodernisierungsgesetzes behandelt wird.

Das Gesetz umfasst damit folgende Punkte:

Produkte:

  • Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang für Telekommunikationsdienste und audiovisuelle Mediendienste (Computer, Notebooks, Smartphones, Tablets, Mobiltelefone)
  • Smartphones und Mobiltelefone
  • Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten
  • Fernsehgeräte mit Internetzugang
  • E-Book-Lesegeräte
  • Router

Dienstleistungen:

  • Telekommunikationsdienste
  • Personenbeförderungsdienste im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr
  • E-Books und dafür bestimmte Software
  • Bankdienstleistungen 
  • Elektronischer Geschäftsverkehr

Besonders der letzte Punkt ist für viele Betreiber von Online-Shops von Bedeutung. Dass die Bestimmungen auch für den Bereich E-Commerce gelten, führt dazu, dass sich nun auch viele privatwirtschaftliche Anbieter darauf einstellen müssen, Ihre Angebote auf barrierefreien Shop-Portalen zur Verfügung zu stellen. Lediglich Kleinstunternehmen, d.h. Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte und höchstens einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von zwei Millionen Euro haben, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen.

Ab wann gelten die Barrierefreiheitsanforderungen?

Das Gesetz sieht vor, dass die Regelungen für alle Produkte und Dienstleistungen gelten, die ab dem ab dem 28. Juni 2025 angeboten werden. Ausnahmen gelten für Inhalte von Websites und mobile Anwendungen, wie aufgezeichnete zeitbasierte Medien oder  Dateiformate von Büroanwendungen, die vor dem 28. Juni 2025 veröffentlicht wurden. Auch Inhalte von Dritten, über die Wirtschaftsakteure keine Kontrolle haben, oder Archivinhalte die nicht mehr bearbeitet werden, fallen aus den Regelungen raus. Eine weitere Besonderheit besteht für Selbstbedienungsterminals, welche ihren ersten Einsatz vor diesem Stichtag hatten. Für diese gilt eine verlängerte Übergangsfrist von bis zu 15 Jahren, so dass diese bis spätestens 2040 ebenfalls den Anforderungen entsprechen müssen. Zudem gilt auch für Dienstleistungen eine Schonfrist, insofern diese unter Einsatz von Produkten entstehen, welche bereits vor dem 28. Juni 2025 eingesetzt wurden. Derartige Leistungen sollen bis spätestens 27. Juni 2030 erbracht werden dürfen, ohne Anpassungen hinsichtlich barrierearmer Aspekte einfließen zu lassen.

Was sind die Anforderungen an Barrierefreiheit?

Konkrete Anforderungen für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen lässt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz größtenteils offen. Es wird lediglich definiert, dass diese als barrierefrei gelten, wenn: 

  • sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind,
  • eine Information über das Zwei-Sinne-Prinzip zur Verfügung gestellt wird, 
  • die Inhalte in verständlicher Weise dargestellt sind, 
  • in einer Schriftart mit angemessener Schriftgröße, in geeigneter Schriftform und Kontrast bereit stehen, 
  • und auf eine Weise publiziert werden, die die Nutzer wahrnehmen können.

Das Gesetz erteilt dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Ermächtigung, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen, dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, konkrete Bestimmungen zu den Anforderungen der Barrierefreiheit auszuarbeiten. Des Weiteren behält sich das Gesetz die Möglichkeit vor, Präzisierungen der Barrierefreiheitsanforderungen aufzunehmen, welche die Kommission der EU durch delegierte Rechtsakte zukünftig erlassen könnte.

Kritik 

Die Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/882 durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist ohne Frage ein wichtiger Schritt in Richtung Barrierefreiheit. Doch für viele Betroffene sind die Ausführungen zu minimalistisch. Während andere Länder einige Schritte voraus sind und wie z.B. Österreich schon gesetzliche Regelungen zur Barrierefreiheit im privatwirtschaftlichen Bereich in Gesetzestexten verankert haben, ist man in Deutschland weiter vorsichtig und geht nur so weit, wie es die EU-Richtlinie verlangt. So entsprechen die Fristen für die Umsetzung der Barrierefreiheit exakt denen des EAA, was bedeutet, dass die Anforderungen teilweise erst bis 2030 (Online-Handel) oder sogar 2040 (Selbstbedienungsterminals) realisiert sein müssen. Für viele Betroffene ist das zu lang. Auch wurden bisher keine konkreten Anforderungen an barrierefreie Produkte und Dienstleistungen definiert.

Nicht nur, dass sich mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nicht getraut wurde einzelne Regelungen proaktiv besser auszugestalten, auch wurden vereinzelt Bereiche des European Accessibility Act bei der Umsetzung in Gesetzestext gar nicht berücksichtigt. Dazu zählen u.a. Haushaltsgeräte, Arbeits-IT aber auch das Thema Bau. Die bauliche Umwelt wurde komplett außer Acht gelassen. Und wenn Ende 2040 dann auch endlich das letzte Selbstbedienungsterminal ohne jegliche Barrieren bedienbar sein wird, so ist vermutlich immer noch nicht sichergestellt, dass der Zugang zu diesem ebenfalls frei von Barrieren sein wird.  

Wie aufwändig der Wandel ist, sehen Bund und Länder aktuell im Spannungsfeld der OZG-Umsetzung in Verbindung mit den Erfordernissen nach barrierearmen und zugänglichen Websites gemäß der BITV-Anforderungen. Dort geschehen aktuell Innovationen, während Unternehmen im privatwirtschaftlichen Bereich in Sachen Verpflichtung zu Barrierefreiheit weiterhin geschont werden. Statt hier kurzfristig zu denken, sollte langfristig geplant und ein Anreiz für Fortschritt geschaffen werden, um auf dem Weltmarkt digitaler Angebote konkurrenzfähig zu bleiben.  Dadurch, dass keine Regelungen oder harte Fristen aufgestellt werden, sehen sich Unternehmen vermutlich nicht dazu gezwungen, in Sachen Barrierefreiheit schnell Weiterentwickelungen zu tätigen. 

Es gilt zudem, entsprechende Kompetenzen zu schaffen. Je mehr Marktteilnehmer sich mit dem Themenfeld der Barrierefreiheits-Thematik auseinandersetzen, desto geringer wird die Last für jeden Einzelnen. Außerdem wird mit einer konsequenten Umsetzung von Barrierefreiheit perspektivisch nicht nur die Wirtschaft angekurbelt, sondern auch dem Menschenwohl und einer moralischen Grundhaltung im Sinne eines inklusiven und universellen Designs Rechnung getragen. Denn das Ziel von Barrierefreiheit ist es, allen Menschen einen Zugang im öffentlichen, als auch privaten Leben zu ermöglichen. Eine Haltung also, der natürlich auch unabhängig von gesetzlichen Verpflichtungen entsprochen werden kann.

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